Das It-Girl war einst ein gesellschaftlicher Mythos. Chloë Sevigny schlenderte in den 1990ern durch Downtown Manhattan, Alexa Chung gab dem Indie-Internet der Nullerjahre eine britische Silhouette – und Olivia Palermo spazierte im Blazer durch den Meatpacking District, als wäre Streetstyle ein Geburtsrecht. 2025 aber haben sich die It-Girls neu formiert: Es lebt auf TikTok, trägt dunklen Lipliner, blickt gelangweilt, wirkt wie aus einem Berliner Keller entrissen – und hört Brat.
Gabriette und Amelia Grey sind keine bloßen Stilfiguren. Sie sind Symbole einer Ära, in der Einfluss nicht mehr über makelloses Image, sondern über stilisierte Imperfektion entsteht. Die eine – Gabriette – verströmt das subversive Chaos eines DIY-Videoclips, die andere – Amelia Grey – gibt sich kontrolliert, kalkuliert, kühl. Gemeinsam erzeugen sie ein Spannungsfeld, das in der visuellen Kultur der Gen Z längst kanonisiert wurde.
Mikrotrends mit Makroeinfluss
Beide haben sich nicht über virale Tänze oder Produktplatzierungen ins kollektive Bewusstsein gespielt, sondern über eine Aura. TikTok-Ästhetiken wie „heroin chic revival“ oder „indie sleaze“ – einst verschrien, jetzt enttabuisiert – erleben durch Gabriette eine Renaissance. Ihr Look wirkt wie ein Moodboard aus Tumblr-Resten, Rick Owens-Kampagnen und Lingerie aus einem französischen Gothic-Archiv. Amelia Grey hingegen bewegt sich durch hyperästhetisierte Stillleben: klare Linien, monochrome Outfits, visuelle Ruhe.
Die Plattform selbst fungiert dabei als dramaturgischer Resonanzraum: Videos, in denen beide lediglich eine Zigarette anzünden oder den Blickkontakt brechen, generieren Millionen Views – nicht durch Aktion, sondern durch Abwesenheit davon.
Cool-Girl 2.0.: Die neuen It-Girls
Der neue Coolness-Kanon verlangt keine Exzesse mehr. Er bevorzugt Gesten des Understatements: das halbherzige Lächeln, das achtlose Selfie, den scheinbar uninszenierten Auftritt in einem Taxi-Flash. Gabriette und Amelia Grey kultivieren eine Anti-Celebrity-Haltung, die maximal selektiv agiert. Keine überinszenierten Interviews, kaum marktschreierische Brand-Bindung – stattdessen kuratierte Fragmentierung.
In einer Ära, in der Influencer-Content visuell gesättigt und konzeptuell leer wirkt, sind Distanz, Undurchschaubarkeit und symbolische Referenzialität neue Kapitalformen. Cool-Girl 2.0 ist keine Person, sondern ein Prinzip.
Gothic Softcore vs. Fashion Purismus
Gabriettes Messy Hotness – feuchtes Haar, verschmierter Liner, undone Lippen – zelebriert einen ästhetischen Kontrollverlust, der bewusst mit religiöser Symbolik spielt. Ihr Markenzeichen: Tattoo-verzierte Schultern in Korsettkleidern, Rosary-Choker, transparente Stoffe, die Sünde und Spiritualität in Einklang bringen. Der Begriff des ästhetischen Katholizismus trifft hier präzise – Ikonografie, Ironie und Identität verschmelzen.
Amelia Grey hingegen perfektioniert die Sprache des modernen Minimalismus: asymmetrische Schnitte, Skulpturalität à la Ferragamo, strukturierte Silhouetten in Nachtfarben. Ihre Präsenz bei Marken wie Balenciaga, Ferragamo und zuletzt auf der Magda-Butrym-Launchparty im schwarzen Rosen-Ensemble steht für das neue Power-Dressing mit kaltem Blick.
Doch gerade wegen der visuellen Nähe beider Ästhetiken stand Amelia Grey lange in der Kritik: Ihr wurde vorgeworfen, Gabriettes Look zu kopieren – von der Frisur bis zur Körperhaltung. TikTok-Videos wie dieses hier zerlegen Bild für Bild vermeintliche Ähnlichkeiten:
@thefashionnap Marc Jacobs won April Fools Day with this very real campaign 😅 #marcjacobs #gabbriette #ameliagray #aprilfools ♬ original sound – Chani Ra – fashion commentary
Modemacht ohne Kompromisse
Während Gabriette Kampagnen für Alexander Wang prägt und als visuelle Muse im Dunstkreis von Charli XCXs Brat-Universum zirkuliert, etabliert sich Amelia Grey als Dauergast auf den Moodboards internationaler Casting-Agents. Ob Ferragamo-Face, Balenciaga-Model oder Editorial Darling fürs Interview Magazine: Ihre stilistische Evolution vom Nepo Baby zur ästhetischen Autorität ist abgeschlossen.
Beide besetzen dabei jene postmoderne Grauzone zwischen Model, Muse und Mythos, die einst Kate Moss mit Naomi Campbell und später Bella mit Gigi Hadid dominierten.
Stilpaare üben seit jeher eine magnetische Wirkung auf die Modewelt aus. Was früher Patsy & Edina parodierten, setzen Gabriette und Amelia Grey als visuelle Realität um: Zwei Körper, zwei Konzepte, eine Bildsprache. Ob backstage bei H&M x Magda Butrym, in Paris oder privat auf Paparazzi-Fotos – ihre Erscheinung wirkt wie aus einem Independent-Magazin von 2004, aber mit der Ambivalenz von 2025.
In einer Zeit, in der der Begriff „Underground Cool“ längst von Marketingabteilungen zitiert wird, verkörpern die beiden jene Authentizität, die sich eben nicht kaufen lässt. Sie sind die Gegenbewegung zur Content Economy – und gleichzeitig deren raffinierte Meisterinnen.
Post-Influencer It-Girls als Superbrand
Die Zukunft des It-Girls Konzepts liegt nicht in Reichweite oder Markenpartnerschaften – sondern in semantischer Aufladung. Gabriette und Amelia Grey definieren diese neue Figur: selektiv, stilisiert, sphinxhaft. Sie sind nicht Influencerinnen, sondern ästhetische Archivare eines digitalen Zeitgeists, in dem Coolness wieder zur Haltung wird.
In dieser neuen Ära geht es nicht um Sichtbarkeit, sondern um ästhetische Autorität. Gabriette und Amelia Grey? Nicht bloß Gesichter der Gegenwart – sondern vielleicht die letzten echten It-Girls, bevor der Begriff endgültig in der Algorithmuswolke verschwindet.